Donnerstag, 24. März 2011

Großvater an Enkelsohn (Brief)

Mein Enkelsohn!
Vor mir steht ein junger Mann in zerrissenen Jeans und fleckiger Jacke, mit fahrigem Bart und verschlissenen Schuhen, der sein von Dreadlocks versetztes wirres Haar mit einer alten Stoffwindel am Kopf bändigt.
Ich kann diesen Anblick nicht ertragen.
Denn wenn ich dich ansehe, dann sehe ich das Bild von einem Hippie aus den 60er Jahren. Einen Menschen, der dem, was mir damals wichtig war und heute wichtig ist, den Rücken gekehrt hat. Ich sehe das Bild von einem dieser Aussteiger, die sich in die griechischen Höhlen von Matala (http://de.wikipedia.org/wiki/Matala) zurückgezogen haben. Die sich mit Ihresgleichen zukiffen, ihre Seele im Wind baumelnd in den Tag hinein leben. Ohne Verantwortung zu übernehmen, ohne Ziel.
Ich sehe das Bild von einem, der am Karlsplatz herumhängt. Einen Drogenabhängigen, einen Obdachlosen, einen Bettler und Schnorrer, einen Nichtsnutz.
Zu Kriegsende 1945 war ich 15. Wir hatten nichts. Winzige Gemeindewohnung, kaum etwas zu essen. Mein Ziel war, raus aus dem Dreck. Raus aus der Enge, raus aus dem Mangel.
Meine Strategie war Arbeiten und Geld verdienen.
Wenn ich sage, "du tust nichts," dann meine ich, du tust nichts, was mir wichtig ist. Denn mir ist wichtig, Arbeit haben und Geld verdienen. Den Unterhalt bestreiten. Ich will Ordnung. "Ordnung ist das halbe Leben." Und ich will Sicherheit. Sicherheit, dass ich nie wieder im Dreck lande, in der Enge, im Mangel.
Darum ist's mir mein ganzes Leben lang gegangen, und das vermisse ich bei dir.
Dein Bild zu ertragen, würde mir abverlangen, dass ich mich ändere. Ich müsste das für gut erachten, was Dein Bild für mich verkörpert. Ich müsste die Mentalität, die ich hinter diesem Bild und hinter dem was du tust vermute, akzeptieren. Aber das will ich nicht. Ich will mich nicht ändern.
Das Gute in dir, mein Enkelsohn, es ist so gründlich hinter meinen Vorurteilen verborgen, dass ich nicht im leisesten auf den Gedanken komme, danach zu suchen.
Und das hindert mich daran, dich zu lieben.
Ich will dich nur lieben, wenn du in mein Schema passt.
Schneid' dir die Haare, rasier' dich und zieh dir was ordentliches an.
Und lass mich, ich bin müde.
Hochachtungsvoll
Dein Großvater
(Entwurf)
Frei nach einer Begebenheit vom 23.03.2011