Freitag, 7. Dezember 2007

Wandermärchen

Es waren einmal sechs Bergsteiger, die zu einer Expedition aufgebrochen waren.

Drei von ihnen waren schon sehr lange als damals begeisterte Wanderer in der Buckligen Welt unterwegs gewesen, einer war Führer, die beiden anderen wurden geführt.
Vom Tourismusverband war dann eine Expedition mit ungewissem Ziel beauftragt worden, das den Wanderern als reizvolle Aufgabe erschien. Sie erklärten sich bereit, und der Tourismusverband stellte zur Absicherung des Expeditionserfolges einen Bergführer bei.
Der erste Führer war ein wenig irritiert über diese ungebetene Hilfe, gewöhnte sich aber schließlich an die neue Situation und fand einen Weg, sich mit dem zweiten Führer zu arrangieren.
Die vier streiften durchs Holz, und bemerkten Defizite. Sie wählten zwei weitere Mitglieder ins Team.

Zu sechst unterwegs im Alpenvorland wurde der Mannschaft zunehmend klar, dass sie von Wind und Wetter getrieben wohl zu Höherem aufsteigen würden müssen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. So begannen sie darüber zu diskutieren, während sie gingen, wo es denn eigentlich hin gehen sollte.

Die Streifzüge durchs Alpenvorland waren von Rückschlägen gekennzeichnet. Immer wieder geriet der eine oder der andere der Mannschaft ins Taumeln und stürzte. Das tat weh. Das Gelächter der Anderen war groß, und das tat auch weh. Die Rügen der Bergführer waren laut, und schmerzten zum dritten Mal.

Anfangs erschienen die beiden Führer mitunter verschiedener Meinung oder gar ratlos. Mit der Zeit schienen die Meinungsunterschiede zu schwinden. Die Ratlosigkeit aber blieb.
Die Bergführer waren darauf bedacht, die Expeditionsteilnehmer in ihre Entscheidungen einzubinden. In scheinbar belanglosen Angelegenheiten versuchten sie Konsens zu finden, etwa ob man an der Quelle fünf oder sechs der leeren Flaschen mit Wasser füllen sollte, oder ob am kleinen Steinbruch das grüne, oder besser doch das gelbe Kletterseil Anwendung zu finden hätte. Der Weg zum Konsens war mitunter so mühsam und steinig, wie der Weg, den sie im Wald eingeschlagen hatten. Es gab so viele Für und Wider, die es abzuwägen galt.

Bei all dem Abwägen schien es manchem, die Entscheidung, um die gerungen wurde, wäre gar nicht wichtig. Es sei im Grunde gleich, ob keine oder alle Flaschen gefüllt würden. Und ging’s am gelben Seil den Fels empor, beschlich doch jeden Zweiten das Gefühl, das grüne wäre die weise Wahl gewesen.
Und selbst in so wichtigen Fragen wie der Interpretation der Wetterlage oder Vorgabe der Marschrichtung fand sich selten ein Weg zum Konsens.

Die Unzufriedenheit keimte und gedieh. Bei den Geführten ebenso wie bei den Führern.
Den Bergführern schienen die Bergsteiger schwach, unbeholfen, schwerfällig im Tritt. Den Bergsteigern schienen die Bergführer schwach, unbeholfen, schwerfällig im Tritt, und außerdem wenig beschlagen im Weisen der Richtung und unbeholfen im Erwerb von Vertrauen.

Der eingeschlagene Weg schien den Bergsteigern verschlungen, und wenig nachvollziehbar. Landkarten mit eingezeichneten Wegen sahen die Bergsteiger selten, und wenn überhaupt, so war nur die nähere Umgebung abgebildet. Den Blick aufs Ganze gaben sie nicht frei. Und manchmal schien es, als hätten die Bergführer selbst keine Übersichtkarte dabei. Und Zweifel kam hoch in den Bergsteigern, ob sie ihr Ziel denn je erreichen würden.

In den Bergsteigern keimte der Verdacht, ihre beiden Führer wären vielleicht überfordert, das ganze Team sicher ans Ziel zu bringen. Auch die Frage nach dem Wohin keimte wieder auf. Anninger Schutzhaus nahe bei Wien, oder über eine unbekannte Route durch die Aiger Nordwand?
Die Bezwingung der Wand, das wäre aus Sicht der Bergsteiger die anzupeilende Herausforderung gewesen, um das Auskommen des Teams sicher zu stellen.
Aber sich von diesen Bergführern sicher durch die Wand geleiten zu lassen, dazu fehlte ihnen der Mut. Denn die Führer trugen Halbschuhe, und beim Schlagen von Knoten war ihnen in jüngster Vergangenheit der eine oder andere peinliche Fehler unterlaufen.
Und das Ziel, das die Führer möglicherweise tatsächlich anvisiert hatten, schien der Mannschaft eher in der Nähe des Anninger zu liegen, und was sollten sie dort bloß?

Es war in einer seltsam anmutenden Hütte zweier Kräuterweibeln gewesen, in der der Expeditionstrupp Rast gemacht hatte. Den Wanderern waren gar seltsame Flüssigkeiten kredenzt und eigene Kräuter in die Pfeifen gestopft worden, und es war Zeit zur Einkehr, zur Besinnung. Befindlichkeiten wurden ausgetauscht und Sichtweisen.
Und als die Weibeln ihre Gäste schließlich in die eigentümliche Kugel hatten blicken lassen, die in der Mitte des runden Tisches auf sie gewartet hatte, sahen sie glasklar: Zwischen Führern und Geführten fehlte das Vertrauen, ein gemeinsames Ziel zu erreichen…
Fortsetzung folgt.

R@iner am 10.3.2004
Fabel aus dem Berufsleben, meinen Wasserfall-Gefährten gewidmet.

Fortsetzung: Wandermärchen (Teil 2)

Donnerstag, 6. Dezember 2007

Der Papagei der Königin

Es war einmal eine Königin namens Evid.
Sie besaß einen Papagei, den nannte sie Astra.
Astra wohnte im wunderbaren Königsschloss in einem wunderbaren goldenen Käfig. Der war bestückt mit allem, von dem man meinen könnte, ein Papagei müsste Freude daran haben. Da waren Schaukel, Spiegelchen, Glöckchen, und da war jede Menge an Leckereien, und frisches Wasser in Hülle und Fülle.
Astra war ein schöner Papagei. Astra hatte bunte Federn und war von makellosem Wuchs, kräftig und gesund.
Astra war ein besonderer Papagei. Astra konnte sprechen, wie kaum ein anderer Papagei, denn Astra konnte Geschichten erzählen, so schön, dass die Menschen von weit her kamen, um diese zu hören.
Und Astra konnte alle Vogelstimmen der Welt nachahmen, vom ersten Ruf des Kuckuck im Frühling bis hin zum wundervollen Gesang der Nachtigal und auch die Lerche.
Und nun begab es sich aber eines Tages, dass Astra nicht mehr singen mochte, und auch das Sprechen wollte ihr nicht mehr so recht vom Schnabel gehen.
Evid hatte sich schon seit Tagen Sorgen um ihre Astra gemacht. Denn es war ihr schon längst nicht unentdeckt geblieben, dass Astras Gesang seltener geworden war und die Geschichten, die sie erzählte, hatten sich zu wiederholen begonnen. Und die Sätze, die sie sprach, waren kürzer geworden.
Evid hatte daraufhin ihre Fürsorge um den Vogel erhöht, hatte noch mehr Spiegelchen und Glöckchen in den goldenen Käfig gehängt und noch mehr Leckereien. Sie hatte den Hofarzt kommen lassen, der hatte alle seine Arzneien versucht. Und selbst der Hoflogopäde scheiterte beim Versuch, Astra das Sprechen wieder beizubringen. Gerade auf ihn hatte Evid all ihre Hoffnung gesetzt, wo er doch derjenige war, der dem lispelnden König mit seiner Kunst hatte das Zuzeln abgewöhnen können. Der Hoflogopäde galt als Zauberer im ganzen Land für diese Leistung, aber nein. Nichts hatte geholfen.
Evid war verzweifelt. Sie trauerte um ihren Papagei, und darüber, dass er krank war. Unheilbar krank, wie ihr schien.
Was kann ich bloß tun, schluchzte Evid eines Tages vor dem Käfig, und die Tränen rannen in Strömen über ihre roten Wangen.
Du musst mich frei lassen, flüsterte Astra im Käfig, und es war eher ein Hauch, als ein gesprochener Satz, der da zu hören war. Du musst mich frei lassen. Ich brauche den Duft der Blumen auf den Wiesen. Ich muss die rauhe Rinde der Bäume unter meinen Klauen spüren, und ich brauche den Wind in meinen Federn. Ich muss fliegen.
Evid hörte auf zu schluchzen, und der Tränenstrom versiegte. Astra frei lassen? Was für ein verrückter Gedanke! Was würde Evid alles verlieren, wenn sie das täte? Der schöne goldene Käfig wäre leer. Wo Astra gerade wäre, Evid wüsste es nicht. Sie fürchtete sich davor, einsam zu sein. Nein, das wollte sie keinesfalls.
Aber Astras Zustand verschlechterte sich weiter, sie aß nicht mehr, sie trank nicht mehr. Und sogar die Federn, die schon grau zu werden begonnen hatten, fingen an, ihr auszufallen.
Evid war unglücklich, und Astra war unglücklich.
Evid grämte sich und wurde grau, und Astra grämte sich und wurde grau.
Das ging lange so. Fast zu lange.
Doch eines Tages, ich glaube es war in der Zeit wo sich der Tag, an dem Evid ihre Astra bekommen hatte wieder einmal jährte, da nahm sich Evid ein Herz und ließ die Türe des Käfigs offen, bevor sie ging.
Astra was verdutzt. Völlig verdutzt. Zuerst konnte sie es gar nicht glauben.
Sehnsucht und Angst vermischten sich in ihr und machten sie ganz wirr.
Vorsichtig reckte sie den Kopf durch die Tür. Nicht, dass ihr die Welt außerhalb des Käfigs unbekannt gewesen wäre. Den Boden des Gemachs, den kannte sie wohl, und auch die Tische, die Schränke, die Bücher und den Hausrat, der überall herumstand, kannte sie.
Sie kannte es vom Sehen. Aber darin umher zu fliegen, das war nun doch etwas ganz anderes. Und dann erst das Fenster, das zum Garten hinzu offen stand. Schön war es, aber Furcht einflößend.
Astra hatte Angst. Angst vor dem Neuen. Auch Evid hatte Angst. Angst vor dem Neuen.
Astra hatte Angst davor, alleine zu sein. Auch Evid hatte Angst davor, alleine zu sein.
Astras Herz pochte rasend, als sie ihre erste Runde durch den großen Raum flog, in dem ihr Käfig stand. Was für ein erhebendes Gefühl! So spannend und aufregend. Wie froh und erleichtert war Astra, als sie nach diesem ersten Ausflug wieder wohl behalten zu ihrem Käfig zurück flatterte, um sich auf ihn zu setzen und sich auszuruhen.
Auch Evids Herz hatte gepocht, als Astra zu ihrem ersten Flug ansetzte hatte. Evid hatte im Nebenraum vor Aufregung gezittert, fast so, als wäre sie selbst diejenige gewesen, die zum ersten Mal geflogen war. Und wie froh und erleichtert war Evid, als sie sah, dass Astra nach dem Fliegen wieder wohl behalten zu ihrem Käfig zurückkehrte.
Denn dass sie das wusste, das kannst Du mir schon glauben. Evid hatte die Tür zum Nebenraum nicht ganz geschlossen, als sie ging. Und ohne dass Astra es bemerken hätte können, hatte Evid die ganze Szene durch den Türspalt beobachtet.
Von diesem Tage an blieb die Tür des Käfigs offen.
Astra konnte ein und aus, ganz wie es ihr beliebte.
Eines Tages war sogar der Hofschmied gekommen, der hatte den Auftrag, die Tür des Käfigs ganz zu entfernen. Und das tat er auch.
Astra war froh, und Evid war froh.
Astra gewann schon nach wenigen Tagen ihre Lebensfreude wieder, und bald glänzte ihr Gefieder wieder in voller Pracht. Ich glaube sogar, es ist schöner geworden. Ja, es war schöner. Viel schöner.
Ihre Worte waren wieder zu hören, und es waren viele an der Zahl. Die Sätze, die sie sprach, waren noch interessanter als früher, den sie wusste nun von Dingen zu sprechen, die niemand je zuvor hatte sprechen hören. Und ihr wundervoller Gesang erfüllte den Raum, viel heller und klarer und lieblicher als je zuvor. Und nicht bloß den Raum erfüllte er, nein, den ganzen Palast und auch den Palastgarten. Die Wiesen und die Felder, den Wald und die Flur. Das ganze Königreich.
Und so war im Ende alles gut und Evid und Astra lebten glücklich und zufrieden.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Meiner Tochter Astrid gewidmet, und ihrer Mutter Eva
R@iner (29.04.2007)