Donnerstag, 6. Dezember 2007

Der Papagei der Königin

Es war einmal eine Königin namens Evid.
Sie besaß einen Papagei, den nannte sie Astra.
Astra wohnte im wunderbaren Königsschloss in einem wunderbaren goldenen Käfig. Der war bestückt mit allem, von dem man meinen könnte, ein Papagei müsste Freude daran haben. Da waren Schaukel, Spiegelchen, Glöckchen, und da war jede Menge an Leckereien, und frisches Wasser in Hülle und Fülle.
Astra war ein schöner Papagei. Astra hatte bunte Federn und war von makellosem Wuchs, kräftig und gesund.
Astra war ein besonderer Papagei. Astra konnte sprechen, wie kaum ein anderer Papagei, denn Astra konnte Geschichten erzählen, so schön, dass die Menschen von weit her kamen, um diese zu hören.
Und Astra konnte alle Vogelstimmen der Welt nachahmen, vom ersten Ruf des Kuckuck im Frühling bis hin zum wundervollen Gesang der Nachtigal und auch die Lerche.
Und nun begab es sich aber eines Tages, dass Astra nicht mehr singen mochte, und auch das Sprechen wollte ihr nicht mehr so recht vom Schnabel gehen.
Evid hatte sich schon seit Tagen Sorgen um ihre Astra gemacht. Denn es war ihr schon längst nicht unentdeckt geblieben, dass Astras Gesang seltener geworden war und die Geschichten, die sie erzählte, hatten sich zu wiederholen begonnen. Und die Sätze, die sie sprach, waren kürzer geworden.
Evid hatte daraufhin ihre Fürsorge um den Vogel erhöht, hatte noch mehr Spiegelchen und Glöckchen in den goldenen Käfig gehängt und noch mehr Leckereien. Sie hatte den Hofarzt kommen lassen, der hatte alle seine Arzneien versucht. Und selbst der Hoflogopäde scheiterte beim Versuch, Astra das Sprechen wieder beizubringen. Gerade auf ihn hatte Evid all ihre Hoffnung gesetzt, wo er doch derjenige war, der dem lispelnden König mit seiner Kunst hatte das Zuzeln abgewöhnen können. Der Hoflogopäde galt als Zauberer im ganzen Land für diese Leistung, aber nein. Nichts hatte geholfen.
Evid war verzweifelt. Sie trauerte um ihren Papagei, und darüber, dass er krank war. Unheilbar krank, wie ihr schien.
Was kann ich bloß tun, schluchzte Evid eines Tages vor dem Käfig, und die Tränen rannen in Strömen über ihre roten Wangen.
Du musst mich frei lassen, flüsterte Astra im Käfig, und es war eher ein Hauch, als ein gesprochener Satz, der da zu hören war. Du musst mich frei lassen. Ich brauche den Duft der Blumen auf den Wiesen. Ich muss die rauhe Rinde der Bäume unter meinen Klauen spüren, und ich brauche den Wind in meinen Federn. Ich muss fliegen.
Evid hörte auf zu schluchzen, und der Tränenstrom versiegte. Astra frei lassen? Was für ein verrückter Gedanke! Was würde Evid alles verlieren, wenn sie das täte? Der schöne goldene Käfig wäre leer. Wo Astra gerade wäre, Evid wüsste es nicht. Sie fürchtete sich davor, einsam zu sein. Nein, das wollte sie keinesfalls.
Aber Astras Zustand verschlechterte sich weiter, sie aß nicht mehr, sie trank nicht mehr. Und sogar die Federn, die schon grau zu werden begonnen hatten, fingen an, ihr auszufallen.
Evid war unglücklich, und Astra war unglücklich.
Evid grämte sich und wurde grau, und Astra grämte sich und wurde grau.
Das ging lange so. Fast zu lange.
Doch eines Tages, ich glaube es war in der Zeit wo sich der Tag, an dem Evid ihre Astra bekommen hatte wieder einmal jährte, da nahm sich Evid ein Herz und ließ die Türe des Käfigs offen, bevor sie ging.
Astra was verdutzt. Völlig verdutzt. Zuerst konnte sie es gar nicht glauben.
Sehnsucht und Angst vermischten sich in ihr und machten sie ganz wirr.
Vorsichtig reckte sie den Kopf durch die Tür. Nicht, dass ihr die Welt außerhalb des Käfigs unbekannt gewesen wäre. Den Boden des Gemachs, den kannte sie wohl, und auch die Tische, die Schränke, die Bücher und den Hausrat, der überall herumstand, kannte sie.
Sie kannte es vom Sehen. Aber darin umher zu fliegen, das war nun doch etwas ganz anderes. Und dann erst das Fenster, das zum Garten hinzu offen stand. Schön war es, aber Furcht einflößend.
Astra hatte Angst. Angst vor dem Neuen. Auch Evid hatte Angst. Angst vor dem Neuen.
Astra hatte Angst davor, alleine zu sein. Auch Evid hatte Angst davor, alleine zu sein.
Astras Herz pochte rasend, als sie ihre erste Runde durch den großen Raum flog, in dem ihr Käfig stand. Was für ein erhebendes Gefühl! So spannend und aufregend. Wie froh und erleichtert war Astra, als sie nach diesem ersten Ausflug wieder wohl behalten zu ihrem Käfig zurück flatterte, um sich auf ihn zu setzen und sich auszuruhen.
Auch Evids Herz hatte gepocht, als Astra zu ihrem ersten Flug ansetzte hatte. Evid hatte im Nebenraum vor Aufregung gezittert, fast so, als wäre sie selbst diejenige gewesen, die zum ersten Mal geflogen war. Und wie froh und erleichtert war Evid, als sie sah, dass Astra nach dem Fliegen wieder wohl behalten zu ihrem Käfig zurückkehrte.
Denn dass sie das wusste, das kannst Du mir schon glauben. Evid hatte die Tür zum Nebenraum nicht ganz geschlossen, als sie ging. Und ohne dass Astra es bemerken hätte können, hatte Evid die ganze Szene durch den Türspalt beobachtet.
Von diesem Tage an blieb die Tür des Käfigs offen.
Astra konnte ein und aus, ganz wie es ihr beliebte.
Eines Tages war sogar der Hofschmied gekommen, der hatte den Auftrag, die Tür des Käfigs ganz zu entfernen. Und das tat er auch.
Astra war froh, und Evid war froh.
Astra gewann schon nach wenigen Tagen ihre Lebensfreude wieder, und bald glänzte ihr Gefieder wieder in voller Pracht. Ich glaube sogar, es ist schöner geworden. Ja, es war schöner. Viel schöner.
Ihre Worte waren wieder zu hören, und es waren viele an der Zahl. Die Sätze, die sie sprach, waren noch interessanter als früher, den sie wusste nun von Dingen zu sprechen, die niemand je zuvor hatte sprechen hören. Und ihr wundervoller Gesang erfüllte den Raum, viel heller und klarer und lieblicher als je zuvor. Und nicht bloß den Raum erfüllte er, nein, den ganzen Palast und auch den Palastgarten. Die Wiesen und die Felder, den Wald und die Flur. Das ganze Königreich.
Und so war im Ende alles gut und Evid und Astra lebten glücklich und zufrieden.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Meiner Tochter Astrid gewidmet, und ihrer Mutter Eva
R@iner (29.04.2007)

1 Kommentar:

R@iner hat gesagt…

Evid und Aster sind Kombinationen der Namen Eva und Astrid. Mutter und Tochter könnten im Märchen beliebig den Platz von Evid und Aster einnehmen, es macht immer Sinn.